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Die Geschichte der Deutschen Weihnacht
Kapitel IX
Der Weihnachtsbaum
Wohl schon durch die Einführung der christlichen Religion
nach Deutschland, aber noch mehr durch das Eindringen des
Heiligenkalenders in das natürliche System der deutschheimischen
Festzeiten hatte sich der Brauch des blühenden Winteranfangsbusches
gespalten. Zum Teil war er in die Hand der Kirchenheiligen
geraten, zum Teil aber lebte er auch noch als Busch
fort, der, einfach in den Topf gestellt, am Festtage in Blüte
stand. Auch in ihrer weiteren Entwickelung haben beide Büsche
noch gemeinsame Züge. Beide sind Schlaginstrumente, und beide
werden zu Zuchtruten; der eine für die unartigen Kinder, der
andre für alle, Groß wie Klein, Mann wie Weib. Bei dem
ersten bleibt trotzdem der Segenscharakter länger erhalten, ihm
folgen Geschenke. Bei dem zweiten war er ursprünglich besonders
deutlich: man gab ein Geschenk als Lohn für den Segensschlag;
dann aber wich er der Auffassung der Züchtigung: man
faßte die Geschenke als Loskauf von weiteren Schlägen. Beide
Blütenbüsche wurden im Hause aufgestellt, zum Teil an der
Wand befestigt, zum Teil hängend, zum Teil auf dem Tisch,
im Fenster, auf dem Boden stehend. Beide Blütenbüsche
rückten unter dem dauernden Einfluß des christlichen Festkalenders
nach Weihnachten, erhielten durch den ebenfalls dahin
wandernden Glauben von den blühenden Bäumen im Walde
ihren heimischen Hintergrund wieder und gewannen durch die
christlichen Allegorien von dem Zweig aus der Wurzel Jesse,
aus dem eine Rose entspringt, noch einen neuen dazu. Indem
sie tiefer in den Winter hineinwandern, nehmen sie zum
Teil andre Formen an. Aus dem Blütenbäumchen des Nikolaus
wurde ein Tannenwipfel, an den man bunte Papierblumen hängte,
und ebenso traten für die blühenden Ruten zum Schlagen Surrogate
ein, künstliche Blütenzweige, Buchsbaumsträuße, Tannenzweige
mit bunten Bändern. Mit der typischen Ausbildung des
Surrogates als eines mit bunten Papierrosen und andrem
Schmuck behängten Tannenbäumchens, das in der Stube aufgestellt
wird, teils auch hängt, tritt der Brauch vom Aufstellen
der blühenden Bäume in ein neues Stadium, er wird zum förmlichen
Weihnachtsbaum. Aus indogermanischer Wurzel entsprungen,
aber vom Christentum nicht unwesentlich beeinflußt,
hat der Brauch im Anfang keine Beziehung zu den öffentlichen
Religionen. Allerdings sucht ihn wenigstens der Protestantismus
aufzusaugen. Es gelingt ihm jedoch nicht; der Weihnachtsbaum
wird mit der sich immer enger an ihn anschließenden Bescherung
vielmehr der Mittelpunkt der volkstümlichen Weihnachtsfeier
ohne mythologische und religiöse Färbung, des Kinderfestes,
das keine Deutung und Entschuldigung braucht, sondern dessen
Dasein durch das bloße Dasein der Kleinen gerechtfertigt ist.
Seine Bedeutung wächst innerhalb dreier Jahrhunderte in demselben
Maße, in welchem die Religion die Fühlung mit dem
Volkstum verliert.
Der große Schritt der blühenden Zweige zur typischen Gestalt
des geschmückten Tannenbäumchens fällt jedenfalls in das
Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Soweit zurück ins deutsche
Altertum der Brauch des Aufstellens blühender Büsche auch reichen
mag - vor dem Jahre 1605 kennen wir keinen geschichtlichen
Weihnachtsbaum, d. h. einen geschmückten Baum, der ohne Beziehung
auf ein Paradies- oder Winter- und Sommerspiel am
Christtage aufgerichtet wurde. Auch dann tritt er nicht gleich
fertig vor unsre Augen. Vor allem hat er noch keine Lichter.
Ganz langsam beginnt er hie und da, im äußersten Westen, im
äußersten Osten des deutschen Sprachgebiets litterarisch vorzukommen.
Von einer eigentlichen Verbreitungsgeschichte kann man
in den ersten beiden Jahrhunderten nicht reden. Denn offenbar
ist unter gleichen Verhältnissen der blühende Busch in gleicher
Weise an verschiedenen Orten durch den Tannenbaum ersetzt
worden, und dessen Schmuck ist infolgedessen auch allenthalben
verschieden. Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts treten
die verschiedenen Weihnachtsbäume miteinander in ideelle Beziehung.
Ihre weite Verbreitung tritt aus dem Dunkel und
wird seit Anfang des neuen Jahrhunderts mit reißender Schnelligkeit
eine immer größere. Nachdem der Baum Ende des achtzehnten
Jahrhunderts seinen Siegeszug einmal angetreten, hat
er sich in fünfzig Jahren fast ganz Deutschland und in weiteren
fünfzig die Welt erobert - eine Verbreitungsgeschichte, die auf
dem Gebiete des Volksbrauches einzig dasteht. Zum Teil ist
seine Geschichte in ihrer entscheidenden Periode mit dem Leben
unsrer Klassiker eng verwachsen, zum Teil ist sie abhängig von
dem Napoleonischen Weltkrieg und den damit verbundenen Verschiebungen
der Landesgrenzen: ihre Krönung erhält sie durch
deutsche Reisende, Auswanderer und Kriegsschiffe, die die heimatliche
Sitte nach fernen Ländern und Erdteilen trugen. - -
Um die Grenzscheide des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts
lebte zu Straßburg im Elsaß ein Mann, der, in seiner
Jugend dort eingewandert, mit den Verhältnissen der Stadt wohl
vertraut war und für allerlei kleine und große Vorkommnisse
lebendige Teilnahme hatte. Sein Name ist uns unbekannt, aber
wir haben von ihm noch einige Aufzeichnungen aus dem Jahre
1605, die er in seinen Mußestunden zu keinem bestimmten Zwecke
gemacht zu haben scheint. Sie tragen den Titel: Memorabilia
quaedam Argentorati observata, sind aber deutsch geschrieben.
Er erzählt auch von Weihnachten:
Auff Weihenachten richtett man Dannenbäum zu Strasburg
in den Stuben auff daran hencket man roßen auß vielfarbigem
papier geschnitten, Aepfel, Oblaten, Zischgolt, Zucker etc. Man
pflegt darum ein viereckent ramen zu machen, vndt vorrn
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Weiter ist der Text nicht leserlich, da das Papier an dieser
Bruchstelle völlig zerrissen ist. Jedenfalls schloß sich hier eine
zweizeilige Bemerkung darüber an, was sich in dem Rahmen
fand, oder wo Lichter angebracht waren. Der Plural „Dannenbäum"
läßt es zweifelhaft, ob man in derselben Stube vielleicht
für jedes Kind ein Bäumchen aufrichtete. Fast will es so scheinen,
dem Ursprung des Brauches würde das durchaus entsprechen,
und dieselbe Form ist uns auch 1737 belegt. Jedenfalls kannte
man im Jahre 1605 in Straßburg bereits Weihnachtsbäume in
ihrer typischen Gestalt. Unser Gewährsmann spricht von ihnen
durchaus wie von etwas dort Altgewohntem, das nur ihm, dem
Neueingewanderten, auffällig erscheint. Man wird also mit der
Annahme, daß der Branch hier noch ins sechzehnte Jahrhundert
hinaufreicht, schwerlich fehlgehen.
Die zweitälteste Nachricht über den Weihnachtsbaum stammt
ebenfalls aus Straßburg, und ihr Uebermittler ist ein berühmter
Theologe seiner Zeit, Johann Konrad Dannhauer, der heiligen
Schrift Doktor, Professor und Prediger am Münster. In den
Jahren 1642-1646 hatte er ein mehrbändiges Werk geschrieben,
das 1657 neu aufgelegt wurde. Stellt schon der Straßburger
Bürger in seinen Aufzeichnungen von 1605 die häusliche Weihnachtsfeier
selbständig neben die kirchliche und hält beide sorgsam
getrennt, so eifert der Professor Dannhauer heftig gegen die
häusliche Sitte.
„Unter anderen Lappalien, damit man die alte Weihnachtszeit
oft mehr als mit Gottes Wort begeht, ist auch der Weihnacht- oder
Tannenbaum, den man zu Hause aufrichtet, denselben
mit Puppen und Zucker behängt, und ihn hiernach
schüttelt und abblümen läßt. Wo die Gewohnheit herkommen,
weiß ich nicht; ist ein Kinderspiel. . . Viel besser wäre es, man
weihte die Kinder auf den geistlichen Cedernbaum Christum Jesum."
Die Form dieser beiden ältesten Nachrichten über den deutschen
Weihnachtsbaum beweist deutlich den Zusammenhang des
Brauches mit den blühenden Bäumen der Weihnacht. Auf dem
ältesten Weihnachtsbaum von 1605 finden sich Aepfel und selbst
Blüten in Gestalt bunter Papierrosen, und Dannhauer nennt
das Ableeren des Christbaumes „abblümen". Wenn späterhin
dieser ideelle Zusammenhang auch verloren gegangen zu sein
scheint, so ist er für die beiden ältesten Ueberlieferungen darum
nicht weniger gewiß. -
Aus der Stelle bei Dannhauer gab es nicht nur mehrere
Thatsachen, sondern auch einigen Zorn auf diesen schändlichen
Brauch abzuschreiben, und darum konnte sie nicht unbemerkt
bleiben. Dannhauers Werk war weit verbreitet, und so hat seine
Bemerkung, trotz ihrer entgegengesetzten Tendenz, wohl sogar dazu
beigetragen, den Brauch auszubreiten. Aus seinem Buche entnahm
sie Georg Grabow, Conrektor des Gymnasiums zu Cölln
an der Spree für seine „Entdeckung der schädlichen und schändlichen
Finsterniß". 1679.
„So schreibet D Dannhawerus, ein berühmter Professor
und Prediger zu Straßburg, im IV. Theil der Catechismus-Milch:
Wir sind des anklebenden Unflats auch nicht allerdings befreyet.
Von dem alten Päbstischen Sauerteig ist noch bey uns der
Puppen-Marckt übergeblieben, der offt viel an der devotion
hindert, und viele Tohrheiten nach sich schleifst. Und p. 649
schreibet er: Unter andern Lappalien, damit man die alte Weynacht-Zeit
offt mehr, als mit Gottes Wort und heiligen Übungen,
zubringet, ist auch der Weynacht-Baum, oder Tannenbaum, den
man zu hause aufrichtet, denselben mit Puppen und Zucker be-henget,
und ihn hernach schütteln und abblümen läßt. Wo diese
Gewohnheiten herkommen, weiß ich nicht. Es ist ein Kinderspiel,
doch besser, als andere Phantesey; Nb. ja Abgötterey, so man mit
dem Christkindlein pfleget zu treiben, und also des Satans Capell
neben die Kirche bauet, den Kindern eine solche Opinion beybringet,
daß sie ihre innigliche Gebätlein für dem vermummten
und vermeynten Christ-Kindlein fast abgöttischer Weise ablegen.
Viel besser wäre es, man wiese sie auff den geistlichen Cedernbaum
Christum Jesum."
Der neue Brauch tritt geradezu an Stelle der volkstümlichen
Religionsübung der Weihnachtsumzüge, von der sich die Kirche
und die Gebildeten in gleicher Weise abwenden, die aber trotzdem
auch weiterhin einen durchaus religiösen Charakter tragen. Wie
sie ehedem der Mittelpunkt der Weihnachtsfeier der Kinder waren,
so wird jetzt er es. Er ist nur deshalb imstande, sie zu verdrängen,
weil er, ganz dem Sinne der Zeit entsprechend, keinerlei
konfessionell religiösen Charakter trägt, andrerseits aber auch
keiner christlichen Anschauung direkt zuwiderläuft.
Der Wittenberger Dozent der Rechte Carolus Gottfried
Kisslingius aus Zittau, dem wir die gelehrte Arbeit „Von Heil
Christ-Geschencken" verdanken, kannte die Notiz Dannhauers über
den Weihnachtsbaum in Straßburg ebenfalls; denn er kannte
und zitierte 1737 die Schrift Grabows, welche jene Stelle ent-hielt.
- Gäbe er uns also einen Bericht sehr ähnlichen Inhalts,
so würde man diesen kaum als ein selbständiges Zeugnis für
das Vorkommen des Weihnachtsbaumes betrachten können. Er
erzählt uns allerdings von Weihnachtsbäumen, aber unter so
andren Umständen, daß eine Entlehnung schlechterdings ausgeschlossen
erscheint. Zunächst ist seine Stellung zu dem Brauche
eine andre. Dannhauer verwirft ihn, Kißling empfiehlt ihn.
Weiter erscheinen bei ihm mehrere Weihnachtsbäume in demselben
Hause. Jede Person bekommt einen. Fernerhin haben seine
Weihnachtsbäume Lichter und erscheinen als ein Bestandteil einer
förmlichen Bescherungsfeier. Er sagt: „Wenn die Ueberreichung
der Geschenke denn doch unter gewissen Feierlichkeiten vor sich
gehen soll, so gefällt mir immer noch am besten die Art und
Weise, wie eine Frau, welche auf einem Hofe lebte, die Bescherung
veranstaltete. Wie sie mit ihrem Gatten sehr ehrbar
gelebt hatte, so hatte sie auch lauter sehr angesehene Söhne und
Töchter und überhaupt eine sehr zahlreiche Familie, und sie teilte
ihren Kindern und Dienstboten aufs freigebigste Geschenke aus.
Und zwar folgendermaßen: Am heiligen Abend stellte sie in ihren
Gemächern soviel Bäumchen auf, wie sie Personen beschenken
wollte. Aus deren Höhe, Schmuck und Reihenfolge in der Aufstellung
konnte jedes sofort erkennen, welcher Baum für es bestimmt war.
Sobald die Geschenke verteilt und darunter ausgelegt
und die Lichter auf den Bäumen und neben ihnen angezündet
waren, traten die Ihren der Reihe nach in das Zimmer,
betrachteten die Bescherung und ergriffen jedes von dem für es
bestimmten Baume und den darunter bescherten Sachen Besitz.
Zuletzt kamen auch die Knechte und Mägde in bester Ordnung
herein, bekamen jedes seine Geschenke und nahmen dieselben an
sich. - Schließlich können jedoch auch diese Feierlichkeiten und
Veranstaltungen wegbleiben.
„Am besten thun jedenfalls die Hausväter und Hausmütter,
welche die einem jeden zugedachten Geschenke diesem zu einer Zeit
überreichen, wo er deshalb nicht den Gottesdienst zu versäumen
braucht, fromme Wünsche dazufügen, den Empfängern ins Gedächtnis
zurückrufen, welche Wohlthaten Gott durch die Geburt
des Heilandes auf uns gehäuft hat, sie zur Frömmigkeit und
Tugend ermahnen und ihnen auch fernerhin väterliche Fürsorge,
Schutz und Hilfsbereitschaft versprechen."
Da die meisten Züge, welche Kißling in seiner Schrift aus
eigener Beobachtung mitteilt, seiner Heimatsstadt Zittau oder
deren nächster Umgebung entnommen sind, so wird man kaum
fehlgehen, wenn man von diesem Zuge das Gleiche annimmt.
Etwaige Reisen erwähnt er obendrein nirgends.
Seit der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beginnen
die Nachrichten über die Ausübung unsres Brauches häufiger
zu werden. Eine Nachricht von Jung Stilling scheint den
Baum in die Jugend des Schriftstellers setzen zu wollen. In
seinem zuerst 1793 veröffentlichten „Heimweh" sagt er: „Mir
wars bei diesen Worten zu Mut als wie einem Kinde bei den
apogryphischen Sprüchen seiner Mutter am Tage vor dem
Christfeste: es ahnet etwas Herrliches, versteht aber nichts, bis es früh
aufwacht, und nun zum hell erleuchteten Lebensbaum mit Vergoldeten
Nüssen und zu den Schäfchen, Christtindchen, Puppen,
Schüsseln mit Obst und Confekt geführt wird." Das klingt wie
eine Kindheitserinnerung. Jung Stilling war 1740 zu Grund im
Nassauischen geboren. Gab's also damals dort wohl schon den
weihnachtlichen Lichterbaum oder „Lebensbaum", wie er ihn nennt?
Sein weiteres Auftreten ist mit Goethes Namen eng verknüpft,
und es ist bezeichnend für dessen Gegenwarts- und Wirklichkeitssinn,
daß gerade er es war, der ihn zuerst in die deutsche
Litteratur einführte. Goethes Vaterhaus kannte keinen Weihnachtsbaum,
wie er in Frankfurt am Main überhaupt nicht üblich
war. Wenn Goethe ihn doch früh kennen lernte, so verdankte
er dies seinem Aufenthalt in Leipzig oder Straßburg.
In „Kunst und Leben, aus Friedrich Försters Nachlaß" erzählt
Frau Appellationsgerichtsrat Körner von einer Weihnachtsfeier,
die Goethe im Hause des Kupferstechers Stock in Leipzig
mitmachte. „Goethe und der Vater trieben ihren Mutwillen soweit,
daß sie an dem Weihnachtabend ein Christbäumchen für
Joli (das Windspiel des Hausherrn, das Goethe sehr liebte) mit
allerhand Süßigkeiten behangen, aufstellten, ihm ein rotwollenes
Kamisol anzogen und ihn auf zwei Beinen zu dem Tischchen,
das für ihn reichlich besetzt war, führten, während wir mit einem
Päckchen brauner Pfefferkuchen, welche mein Herr Pate aus Nürnberg
geschickt hatte, uns begnügen mußten. Joli war ein so
unverständiges, ja ich darf sagen, so unchristliches Geschöpf, daß
er für die, von uns unter unserem Bäumchen aufgeputzte Krippe
nicht den geringsten Respekt hatte, alles beschnoperte und mit
einem Haps das zuckerne Christkindchen aus der Krippe riß und
aufknabberte, worüber Herr Goethe und der Vater laut auflachten,
während wir in Thränen zerflossen. Ein Glück nur
daß Mutter Maria, der heil. Joseph und Ochs und Eselein von
Holz waren, so blieben sie verschont." Hier erscheint der Christbaum
gleichzeitig mit der Krippe, ja es kommen sogar mehrere
Christbäume vor, einer für die Kinder und der andere für den -
Hund. Es ist nicht undenkbar, daß hierin ein Nachklang des
Brauches zu sehen ist, den Kißling kannte und nach dem jeder
Person ein Christbaum zukam.
1770-1771 weilte Goethe in Straßburg. Kannte er den
Christbaum damals noch nicht, so lernte er ihn wohl dort, in
seiner alten Heimat, sicher kennen. Aus dem Jahre 1785 haben
wir einen Beleg, daß derselbe auch damals noch in Straßburg
üblich war, und zwar jetzt mit Lichtern. In ihren „Memoiren"
erzählt die Baronin von Oberkirch aus diesem Jahre: Nous
passámes l’hiver á Strasbourg, et á l’époque de Noél nous
allámes, comme de coutume, au Christkindelmarkt. Cette
foire qui est destinée aux enfants, se tient pendant la semaine
qui précéde Noél et dure jusqu’á minuit . . . Le grand jour
arrive, on prépare dans chaque maison le Tannenbaum, (le
sapin) couvert de bougies et de bonbons, avec une grande
illumination; on attend la visite du Chrsitkindel (le petit
Jésus) qui doit récompenser les bons petits enfants; mais on
craint aussi le Hanstrapp, qui doit chercher etpunir les
enfants désobéissants et méchants.
In Wetzlar scheint der Christbaum nicht heimisch gewesen zu
sein. Lotte und Kestner haben ihn schwerlich gekannt und geübt.
Das geht aus Goethes Weihnachtsbriefen an Kestner 1772 wohl
unzweideutig hervor.
Goethe hatte demnach Lotte niemals unter dem Weihnachtbaume
gesehen, und es war wohl eine freie Schöpfung seiner
Einbildungskraft, wenn er sie 1774 in den „Leiden des jungen
Werther" damit in Verbindung brachte und damit den Christbaum
eigentlich in die deutsche Litteratur einführte: Das Verhängnis
naht bereits heran, am 20. Dezember abends, am Sonntag
vor Weihnachten kommt Werther zu Lotte. Er findet sie
allein. Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke in Ordnung zu
bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern zum Christgeschenke
zurecht gemacht hatte. Er redete von dem Vergnügen, das die
Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen die unerwartete
Oeffnung der Thür und die Erscheinung eines aufgeputzten
Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und Aepfeln in
paradiesische Entzückung setzte. „Sie sollen," sagte Lotte, indem
sie ihre Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, „Sie sollen
auch beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind; ein Wachsstöckchen
und noch was."
Schiller hat niemals in seinen Werken eine Weihnachtsscene
geschildert; aber er liebte das Fest und den Lichterbaum.
Weihnachten 1789, bereits im Stillen verlobt mit Lotte von
Lengefeld, die sich damals mit ihrer Schwester Karoline in Weimar
befand, während die Mutter in Rudolstadt weilte, war er eingeladen
in die Griesbachsche Familie in Jena, um dort Weihnachten
unter dem Christbaum zu verbringen. Schon hatte er
die Einladung angenommen, da sagte er wieder ab; denn seine
Lotte rief ihn nach Weimar. Und er schrieb an sie: „Auf den
Donnerstag komme ich nach Weimar - Daß Ihr Euch ja
nicht von irgend einem heiligen Christ engagiren laßt! Ihr werdet
mir hoffentlich einen grünen Baum im Zimmer aufrichten,
weil ich Euretwegen um den Grissbach'schen komme."
Eben hatte er bei Frau von Lengefeld um die Hand ihrer
Tochter angehalten. In Weimar erhielt er die Antwort: „Ja,
ich will Ihnen das Beste und Liebste, was ich noch zu geben
habe, mein gutes Lottchen geben." Aus der Briefnotiz Schillers
geht wieder deutlich hervor, daß das Aufrichten „eines grünen
Baumes" keineswegs etwas Selbstverständliches und allgemein
Gebräuchliches war. Selbst, ob ein Nadelbaum gemeint ist, ist
fraglich.
Im Jahre 1767 schien der Weihnachtsbaum auch in Leipzig
schon etwas Gewöhnliches zu sein. Im Jahre 1785, aus dem
wir eine ausführliche Schilderung des Leipziger Weihnachtsmarktes
besitzen, fand sich auf demselben der Christbaum noch nicht.
In die Stadt Oldenburg kam er gegen das Ende des achtzehnten
Jahrhunderts. Halberstadt kannte ihn am Anfang des
neunzehnten.
Um die Grenzscheide des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts
beginnt eine neue Epoche in der Geschichte des Weihnachtsbaumes.
Er verliert ziemlich rasch seine Eigenart als rein
örtlicher Brauch und greift nach allen Seiten hin um sich.
Während bisher sein Auftreten fast immer als etwas Besonderes,
als Ausnahme erwähnt wird, wird er jetzt zur selbstverständlichen
Thatsache, über deren Daseinsrecht man nicht mehr
spricht.
Jetzt erst bekommt er auch seinen Namen. Goethe spricht
noch 1774 ganz allgemein von einem „aufgeputzten Baum" und
Schiller bestellt sich noch 1789 bei seiner Braut einen „grünen
Baum". Jung Stilling, braucht 1793 den Ausdruck „Lebensbaum".
Allgemach stellen sich die Bezeichnungen „Weihnachtsbaum",
„Christbaum", „Lichterbaum" ein, an die sich dann Uebersetzungen
wie Christmastree anschließen.
Das erste Mal, daß er in dieser Gestalt auftritt, fallt in
das Jahr 1796, und der Ort ist die unmittelbare Nähe von
Hamburg, das Wandsbecker Schloß. Dort war am Weihnachtsabend
jenes Jahres eine kleine litterarische Gesellschaft versammelt,
darunter Friedrich Perthes und Karoline Claudius. Im
Festzimmer stand auch ein Weihnachtsbaum, und Friedrich Perthes,
der Karoline liebte, benutzte seinen Schmuck, um ihr eine Aufmerksamkeit
zu erweisen. „Hoch oben am Weihnachtsbaum hing
ein Apfel, so schön, so kunstreich vergoldet, wie kein andrer.
Den holte er plötzlich mit halsbrecherischer Kunst herab, und
dunkel erröthend gab er ihn zur nicht geringen Verwunderung
der Anwesenden dem ahnenden Mädchen."
Im Elsaß blieb der Weihnachtsbaum fortdauernd im Gebrauch.
1805 wurde wieder ein großer Leserkreis mit ihm
bekannt, dadurch, daß ihn Johann Peter Hebel in seinen
„Allemannischen Gedichten" in dem Liedchen „Die Mutter an:
Christabend" erwähnte, ohne daß er jedoch den Ausdruck
„Weihnachtbaum", „Christbaum" oder ähnlicher, brauchte.
Er spricht ganz allgemein von „einem Baum".
„Er schloft, er schluft! Do lit er, wie ne Gros:
Du lieber Engel, was i bitt
By Lib und Lebe: verwach mer nit,
Gott gunnts me'm Chind im Schlof!
Verwach mer nit, vermach mer nit!
Die Muetter goht mit stillem Tritt,
Sie goht mit zartem Muttersinn,
Und holt e Baum im Chämmerli d'inn
Was henk i der denn dra?
Ne schöne Lebchueche-Ma,
Ne Gitzeli, ne Mummeli
Und Blüemli weiß und roth und gel,
Vom allerfinste Zuckermehl."
Hier auf dem Lande trägt der Baum noch keine Kerzen,
obwohl in dem vornehmen Straßburg bereits 1785 solche üblich
waren. Die Lichter fehlen auch auf dem zu Straßburg gestochenen Kupfer,
der der fünften Auflage der „Allemannischen
Gedichte" von: Jahre 1820 beigegeben ist. Er zeigt ein Nadelbäumchen,
überdies an der Decke hängend und mit den in dem
Gedicht erwähnten Gegenständen behängt. Hängt doch auch der
britische Holly, der Misteltoe und der Blechkranz mit seinen Lichtern
in Halberstadt, und stellenweise die Pyramide.
Jetzt endlich fand der Weihnachtsbaum auch den Weg auf
den Weihnachtsmarkt. 1807 befand er sich auf dem Christmärkte
zu Dresden, fertig geschmückt mit glänzendem Rauschgold, bunten
Papierschnitzeln, goldenen Früchten und Kerzen. Gleichzeitig tritt
ein Surrogat für ihn auf, ein künstlicher Christbaum, die Pyramide,
die wohl so alt ist wie er selbst, wenn sie auch nicht so
früh bezeugt ist.
Nach Aussage der Großeltern des Berliner Gymnasialdirektors
Wilhelm Schwartz reicht der Weihnachtsbaum in Berlin-Potsdam
etwa bis 1789 zurück. Jahrzehntelang trat er nur in
Gestalt der märkischen Kiene auf. Erst nach Entstehung der
Eisenbahnen wurden vom Harz aus Tannen eingeführt. Heute
hat die Tanne ihre ehemalige Nebenbuhlerin aus dem ganzen
Westen verdrängt, und die Kiene fristet nur noch auf den Christmärkten
des Ostens ein kümmerliches Dasein. Im Anfange
unsres Jahrhunderts übte die feine Welt Berlins nach dem Vorgange
des französischen Emigranten allerdings den Brauch noch
nicht. Derselbe galt vielmehr für ordinär. Dafür schmückte man
ja, wie uns Schleiermacher in seiner 1803 in Halle geschriebenen
„Weihnachtsfeier" erzählt, den Bescherungstisch mit Myrten,
Amaranthen und Evheu. Nach Arndts Erzählung waren Tannenzweige
der notwendige Schmuck des Weihnachtstisches und Hauses.
Mit ihnen wie mit den Aepfeln verband sich allerhand Aberglauben.
Sie sollten Krankheit und Tod abwehren von Menschen
und Tieren.
Wie neben dem Martinszweig der künstlich zusammengebundene
Martinsbusch steht, neben dem blühenden Zweig der
künstlich geschmückte Tannenbaum, so steht neben diesem selbst
wieder das Surrogat, die Pyramide. Da ein blühender Zweig
nicht steht, so wurden wohl vier in Abständen zusammengebunden,
um frei auf dem Tische stehen zu können, und dieser Bau erhielt
sich neben dem Bäumchen, weil er billiger war,, und nahm mit
dem Wachsen der Städte noch an Verbreitung zu.
Noch im siebzehnten Jahrhundert durfte sich vielerorts jedermann
jederzeit ein Bäumchen aus dem Walde holen. In den
Städten mochte das ja zum Teil bereits mit Unbequemlichkeiten
verbunden sein, aber das alte Straßburg beweist, daß es doch
nicht schwierig genug war, um die Bewohner ohne weiteres auf
einen ihnen lieb gewordenen Brauch verzichten zu lassen. Als
man anfing, auch die Waldungen in strengerem Sinne als Privateigentum
zu betrachten, scheint man zur zahlreicheren Verfertigung
künstlicher Christbäume geschritten zu sein. Die Pyramide besteht
später aus einem senkrechten Stäbe, der auf einem Brettchen
oder Kreuze befestigt ist. Er trägt in bestimmten Abständen
dünnere, wagrechte Stäbe, deren Enden in ihn eingebohrt sind.
Das ist die allgemeine Form; es gibt jedoch auch „Pyramiden",
deren Gestell eine wirkliche vierseitige, gerade, abgestumpfte Pyramide ist.
Der Hauptstab, beziehentlich die vier Hauptstäbe sowie
die Nebenstäbe sind mit Reisig oder auch mit grünem Papier
umwunden, auf ihnen stehen Lichter, an ihnen hängen vergoldete
Aepfel, Nüsse und bunte Pfefferkuchen. Während der Tannenbaum
selbst bei größter Lichterzahl den Eindruck einer dunklen
Masse macht, auf der einzelne Punkte hell erleuchtet sind, so
erscheint die Pyramide, der die dichten Zweige fehlen, dem Auge
völlig vom Lichterglanz durchstrahlt. Bisweilen tritt auch eine
Art grün angestrichener, primitiver hölzerner „Kronleuchter", an
den ein paar Tannäste gebunden werden, und den man mit einigen
roten und blauen Dreierlichtchen erhellt, an ihre Stelle. Derselbe
hängt dann an einem Bindfaden von der Stubendecke nieder,
wie ja auch auf dem Kupfer zu Hebels Weihnachtsgedicht der
Christbaum hängt.
Schon 1755 wurde in Salzburg das Holen der Bächl- oder
Weihnachtstischen verboten und um 1809 in Schwaben das Holen
der Maien und Weihnachtsbäume.
Die Pyramide tritt geschichtlich zuerst in Berlin auf. Es
ist das bezeichnend, da der größte Menschenkomplex Deutschlands
naturgemäß zuerst zu einer großen Verteuerung der Weihnachtsbäume,
beziehungsweise zu einer sehr schwierigen Beschaffung
führen mußte. Der Tischlerssohn Ludwig Tieck hat dieses Surrogat
für den Weihnachtsbaum in die deutsche Litteratur eingeführt
in seiner Novelle „Weihnacht-Abend" von 1805. Hier sieht das
Kind Minchen in die gegenüberliegenden Fenster und erblickt dort
die „großen Pyramiden mit den vielen, vielen Lichtern." Dann
sagt sie von ihrem eigenen Weihnachtsschmuck: „Drinn steht nun
schon der Kuchen und die kleine Pyramide für die paar Wachslichterchen,
und nachher machen wir alles recht schön". In der
Breiten Straße wird aufgerufen: „Pyramiden, Waldteufel,
kauft!" Tieck setzt die Novelle ins Jahr 1791 und man wird
auch die Einzelheiten für diese Zeit in Anspruch nehmen dürfen,
um so mehr als der Dichter der äußeren Ausstattung des Weihnachtsfestes
große Aufmerksamkeit schenkt.
Noch heute ist die Pyramide in großen Teilen des Königreichs
Sachsen üblich, und zwar gerade in dem waldreichen Erzgebirge.
In Leipzig beginnt sie gegenwärtig auf dem Christmarkt
sehr stark gegen den Weihnachtsbaum zurückzutreten, wird aber
von den ärmeren Schichten der Bevölkerung noch immer allein
benutzt. Wo im Elternhause des Mannes der Christbaum, in
dem der Frau die Pyramide heimisch war, stehen in der jungen
Familie sogar beide nebeneinander, aber auch hier siegt der Baum
meist über seine Nebenbuhlerin.
Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Märchen „Nußknacker
und Mausekönig" von 1816 ist das erste Berliner Litteraturdenkmal,
in dem der Tannenbaum mit seinen vielen goldnen und
silbernen Aepfeln, seinen knospen- und blütengleichen Zuckermanteln
und bunten Bonbons und was es sonst noch für schönes
Naschwerk gibt, in der Mitte der Weihnachtsbescherung steht.
Hundert kleine Lichtlein funkeln wie Sternlein in seinen Zweigen,
daß die Phantasie des Kindes sich daraus einen ganzen Weihnachtswald
von Christbäumen zusammenträumt. In demselben
Jahre erscheint der Christbaum in einer populären Zeitschrift
Mitteldeutschlands bereits als Lösung eines Rätsels. Seit dem
Jahre 1813 gab es in Bern den mit Lichtern besteckten, mit vergoldeten
Aepfeln, Nüssen u. s. w. behängten Tannenbaum, unter
dem die Gaben ausgebreitet lagen; doch fand diese Feier am
Neujahrstage statt. Noch weiter südlich, in den katholischen Teilen
der Schweiz, findet sich der Lichterbaum am Nikolaustag, dem
6. Dezember. Am ganzen Mittelrhein wurden noch in den
zwanziger Jahren in bürgerlichen Familien keine Weihnachtsbäume
geputzt, sondern die Kinder früh morgens am ersten Christtag,
beschenkt. In Wesel wurde bis dahin nur der Nikolaustag
(6. Dezember) festlich begangen, und es machte in der ersten
Zeit großes Aufsehen, wenn es hieß, da und da brenne ein
Weihnachtsbaum. Viele Leute eilten zu den bezeichneten Häusern,
um das große Ereignis anzuschauen. Noch 1880 feierten
die niedern Volksschichten dort noch immer den Nikolaustag,
während die höheren Stände schon längst den Weihnachtsbaum
hatten.
Noch im ersten Drittel unsres Jahrhunderts kannte der
niederdeutsche Bauer in der Provinz Preußen, in Pommern,
Mecklenburg, Holstein, den Weihnachtsbaum so gut wie nicht, und
noch 1855 konnte ein Sammler aus dem Lechrain berichten:
„Der Christbaum und dessen freundliche Bescherung ist in Altbayern
bis zur Stunde nicht allein auf dem Lande, sondern auch
noch in allen Landstädten gänzlich unbekannt. Nach München
kam er erst am Beginn dieses Jahrhunderts mit der Königin
Karoline (der Gattin Ludwig I., 1830) und hat sich daselbst nun
bei dem Adel, den Beamten und in wohlhabenden Bürgerhäusern
ganz einheimisch gemacht." In Kärnten war das Anzünden des
Weihnachtsbaumes beim Landvolke noch 1879 nicht in Brauch.
Noch um 1860 übte der Tübinger Bürger den Brauch des
Weihnachtsbaumes nur spärlich, gegen 1870 aber war er in
Württemberg ziemlich allgemein geworden. Im Elsaß war er
mit Lichtern schon 1851 allgemein. 1863 führte ein Engel dort
vielfach die Kinder unter den von Kerzen funkelnden Christbaum,
nachdem dieselben den Schrecken des Hans Trapp über sich hatten
ergehen lassen müssen und nur durch die Fürbitten des Christkindes
vor Strafe gerettet worden waren. In dem lothringischen
Märchen „Der Weihnachtsbub" kommt der Weihnachtsbaum ebenfalls vor.
Da kommt der Weihnachtsbub am heiligen Abend in
eine Hütte im Walde, wo man gerade das Fest feiert mit Christbäumchen
und kleinen Geschenken.
Seit ungefähr 1810 drängt der Weihnachtsbaum den Weihnachtsumzug
mitsamt der Bescherung in die letzten Winkel. Wo
sich noch Reste der Nikolausfeier, wie am Rheine, oder der Neujahrsfeier,
wie in der Schweiz, erhalten haben, schlägt er auch sie
aus dem Felde. Unter dem Zeichen des Weihnachtsbaumes wird
Weihnachten Nationalfest.
In Norddeutschland beginnt er schon im ersten und zweiten
Jahrzehnt unsres Jahrhunderts sich lebhaft auszubreiten. In
Hanau ist er mindestens seit 1810 üblich, und ungefähr von
dieser Zeit an wurden Preußen seine Verbreiter in denjenigen
Teilen Deutschlands, die ihn bis dahin noch nicht kannten, und
zwar vermittelst der zahlreichen Grenzverschiebungen der deutschen
Staaten, die durch den Wiener Kongreß zu stande kamen.
Nach Danzig brachten ihn nach dem Jahre 1815 die preußischen
Beamten und Offiziere. Gleichzeitig gewann er im Münsterland
durch die größere Anzahl Protestanten, welche mit der preusischen
Herrschaft ins Land kamen, an Ausbreitung. In Trier
wurde er erst 1825-1830 durch die preußischen Offiziere allgemeiner.
Nach Wesel kam er ebenfalls Ende der zwanziger
Jahre durch die aus Berlin dahin versetzten Offiziere.
Mit dem Ende des dritten Jahrzehntes des neunzehnten
Jahrhunderts hatte sich der Christbaum die Hauptpunkte von
ganz Deutschland erobert. Ungefähr gleichzeitig überschritt er die
deutsche Sprachgrenze nach Südosten zu und drang in Ungarn
ein. Aber auch heute flammt er noch keineswegs am heiligen
Abend überall, soweit die deutsche Sprachgrenze reicht. Allerdings
ist er bekannt von Ostpreußen bis zum Elsaß, von Nord- und
Ostsee bis südlich der Donau - aber zwischen diesen Grenzen
gibt es noch immer Striche, die ihn nicht üben, obgleich dieselben alljährlich
enger werden. Im ganzen ist er im protestantischen Norden
üblicher als im katholischen Süden. Aber selbst die Schranken
des Bekenntnisses hat er längst gebrochen. In den meisten gebildeten
jüdischen Familien ist er heute in Gebrauch. Wo unsre
neueste deutsche Litteratur ein Weihnachtsfest schildert, da steht
er mitten darin.
Karl Bleibtreu hat in einer kleinen Ballade das Weihnachten
geschildert, das eine Abteilung Deutsche in der französischen
Fremdenlegion im Krimkriege in den Gräben vor Sebastopol
feiert. Der Weihnachtsbaum flammt auf und bietet den russischen
Kugeln ein erwünschtes Ziel. In Hermann Bahrs Drama
„Neue Menschen" dient das Aufrichten des Lichterbaumes geradezu
als Sinnbild für die Anhänglichkeit an all die alten lieben
Bräuche der Kinderzeit, und in Gerhardt Hauptmanns „Friedensfest"
ist er das äußere Zeichen des Friedens, den ein gesundes,
lebensfrohes Frauenpaar, Mutter und Tochter, in eine zerrüttete,
mit sich und der Welt zerfallene, an sich selbst verzweifelte
Familie bringt. In Kastans Panoptikum in der Friedrichsstraße
zu Berlin fand sich 1892 eine schöne Weihnachtsscene. Eine
wohlhabende Familie feiert Weihnachten unter dem reichgeschmückten,
hell erleuchteten Baume, und draußen vor dem Fenster steht ein
Bettelkind und schaut sehnsüchtig hinein auf die Pracht.
1855 war der Weihnachtsbaum in Nordhausen üblich und
wurde am Morgen des ersten Feiertags mitsamt der Bescherung
aufgebaut. Anderwärts in Mitteldeutschland sammelten sich um
1860 am Weihnachtsabend alle Hausgenossen, auch die Dienstboten,
um die aufgestellten Bäume und erhielten ihr großes Weißbrot
(Kuchen, in Thüringen Schüttchen) und andre eßbare und
nützliche Dinge.
Zunächst kommt der Baum immer in die Städte, erst dann
aufs Land. 1863 gingen auf dem Lande in Hessen noch Nikolaus
und ein Engel den Kindern am heiligen Abend bescheren.
In den Städten fand die Bescherung unter dem grünen Tannenbaume
statt, dessen Zweige mit vielen brennenden Lichtern, vergoldeten
Nüssen und Aepfeln und allerhand aus Mehl gebackenen
Tieren geschmückt waren. Im Fränkisch-Hennebergschen gab es
1869 selbst beim Landvolk hie und da ein Christbäumchen, aber
ohne Lichter. Ein paar Stückchen Suhler Zucker (Marzipan),
Aepfel und Nüsse waren der ganze Schmuck.
In Schleswig-Holstein war noch 1865 nur in den Städten
und überhaupt bei den wohlhabenderen Ständen der Weihnachtsbaum
eingebürgert. Dänemark und Norwegen kannten den Weihnachtsbaum
im Zimmer schon 1880. In Stockholm brannte 1868
ebenfalls bereits der Weihnachtsbaum, aufgerichtet in der Mitte
des Zimmers und behängt mit Blumen, Früchten und Näschereien.
Den modernen dänischen Weihnachtsbaum beschreibt Andersen
in seinen Märchen. „Den großen Tannenbaum stellte man in
das mit Sand gefüllte Faß. Ringsherum wurde dies mit
grünem Zeug behängt. An die Zweige hingen sie kleine Netze
aus farbigem Papier; jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt.
Vergoldete Aepfel und Walnüsse hingen herab; über hundert rote,
weiße und blaue Lichter wurden in den Zweigen festgesteckt.
Puppen standen im Grünen umher; hoch oben an der Spitze
schwebte ein Stern von Flittergold."
Bei den Inselschweden an der russischen Küste auf Dagö
und Worms war der Weihnachtsbaum nach 1800 üblicher als
heutzutage. An den mit Nüssen und Aepfeln geschmückten Tannen
standen immer je fünf kleine Wachslichter auf einem Zweige.
Einer mündlichen Nachricht zufolge kannte zu gleicher Zeit das
schwedische Festland nur folgenden Weihnachtsbrauch: in der Weihnacht
zogen die Bauern in Scharen aus und suchten sich einen
einsam im Freien stehenden Baum. Diesen zündeten sie an, und
dabei gab es großen Festjubel.
Im sächsischen Erzgebirge war der Brauch des Weihnachtsbaumes
noch 1862 keineswegs allgemein. Ebenso im benachbarten
Voigtlande.
Karl Weinhold schildert dagegen in seinen „Weihnachtsspielen
und Liedern aus Süddeutschland und Schlesien" den Weihnachtsbaum
seiner Jugend (er ist 1823 zu Reichenbach geboren): „Aus
dem Dunkel stürzten nur in das blendend helle Zimmer, in dessen
Mitte der grüne Christbaum stolz sich erhob mit den unzähligen
Lichtern, der goldenen Fahne und seinen: Schmuck an allerlei
niedlichen und süßen Dingen. Schenkten wir ihm auch zuerst
weniger Augen als den Gaben, die jedes für sich abgesondert
fand, so kehrten nur doch zuletzt aufmerksam zu ihm zurück, dem
geineinsamen Gute, und er verbreitete noch so lange weihnachtlichen
Nachglanz, bis er dürr vor Alter dem Feuer übergeben
wurde."
Aus Böhmen schildert ihn Reinsberg Düringsfeld 1862
folgendermaßen: „In vielen czechischen Familien beleuchtet man
noch ein Fichten- oder Tannenbäumchen, welches mit Papierguirlanden
geschmückt und mit Obst, Backwerk, Süßigkeiten und
mit Kleidungsstücken behangen ist. In und um Prag stellt man
diesen Weihnachtsbaum auf den mit einem glänzend weißen Tischtuch
bedeckten Ehrentisch im Winkel der Stube, an welchem man
das Abendessen einnimmt und der Hausherr mit dem ganzen
Gesinde kniend oder stehend vor und nach dem Essen betet und
Koledalieder singt."
Wie den Weihnachtsumzug und die Nikolausfeier, so wirft
der Weihnachtsbaum auch die seit dem vierzehnten Jahrhundert
volkstümliche Krippe immer weiter zurück. Von Ort zu Ort
muß sie ihm weichen. Seine Lichter überstrahlen den Glanz des
neugeborenen Gottes in der Wiege, der auch im Volksglauben
zu erbleichen beginnt. Die Freude der Kinder über die Gaben
des Weihnachtstisches und den Kerzenglanz hat den Sieg über
die Freude davongetragen, welche die mittelalterliche Kirche am
Jesusgeburtstag verkündigte. Als Verdränger der Krippe und
der Anschauungswelt, die sich an sie knüpft, wird der Weihnachtsbaum
ein Merkzeichen des geistigen Fortschritts, das von einem
einmal gewonnenen Boden schwer wieder zu vertreiben ist. In
dem gebildeten deutschen Hause verdrängt er geradezu das Christkind
und die Geburtssagen von ihrer Stelle. Nur frömmelnde
Kreise erhalten die Erinnerung daran noch aufrecht, aber das
Hersagen der betreffenden Bibelstellen, das Singen alter Weihnachtslieder
wird immer seltener, stirbt in weiten Volksschichten
ganz aus. Und doch knüpft sich keinerlei bestimmter Gedanke an
ihn, er hat keinerlei bestimmte Bedeutung. Gerade in der Freiheit
von allem Dogmatischen liegt sein Wert als Mittelpunkt
des größten deutschen Familienfestes im neunzehnten Jahrhundert,
gerade dadurch wird er typisch für die Zeit.
Wilhelm Raabe sagt - noch als Jakob Corvinus - in
seiner Chronik der Sperlingsgasse von den Kindern: „An das
Gewühl vor den Buden, an den grünen funkelnden Tannenbaum
knüpft das junge Gemüt seine ersten wahren, und was mehr
sagen will, wahrhaft kindlichen Begriffe an." Sein Lichterglanz
ist der Schmuck des Weihnachtsfestes, der Duft seiner Nadeln
die Würze der Luft. Seine Pfefferkuchen und Zuckersachen sind
die Freude der Kinder. Er wird der Mittelpunkt des Kinderfestes
Weihnachten, dem der dogmatische Hintergrund längst verloren
gegangen ist. Immer selbstverständlicher wird sein Vorhandensein
bei der Weihnachtsbescherung. Ohne ihn ist's kein
rechtes Weihnachten.
In Reichenberg in Böhmen, wo die Bescherung des Christkindes
1862 am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags stattfand,
waren damals die Christbäume noch selten und waren erst in neuerer
Zeit da eingeführt worden, wo man keine Krippen mehr aufbaute.
Bei Teplitz in Nordböhmen heißt der Christbaum „Tullebaum".
Auch nach Oberösterreich ist er erst in den letzten Jahrzehnten
aus Norddeutschland eingeführt worden. In Graz wurde
er nach Karl Weinhold 1853 als eine protestantische Sitte betrachtet.
Er wurde dorthin um 1813 durch ein paar protestantische
Familien eingeführt, war aber 1853 bereits allgemein.
Den kleineren Orten in Steyer und Kärnten war er damals noch
fremd. In Görz war er gleichzeitig deutsches Kennzeichen, und
in Krakau hatten ihn schon viele Polen angenommen. In Ungarn
pflegen deutsche Bürgerfamilien und hohe magyarische Häuser
den Christbaum etwa seit 1830.
Nach Tirol kam der Weihnachtsbaum kurz vor 1863. Jetzt
macht er dort bedeutende Fortschrite. Telfs an der Bahnlinie
Bregenz - Innsbruck hat ihn bereits seit 1882, aber noch heute
ist er nicht allgemein. In dem Städtchen Mals im Vintschgau
ist er seit 1889 mit Lichtern und buntem Behang eingezogen;
das drei Kilometer entfernte Dorf Burgeis kennt ihn jedoch
noch nicht.
Wo der Weihnachtsbaum hinkommt, da erhält er sich auch.
Allenthalben wird er mit jedem Jahrzehnt volkstümlicher und
der Handel mit ihm ausgedehnter. In alle Kreise, in alle Litteraturgattungen
dringt er. Der religiöse Eifer, der ihn einst als
unchristlich bekämpfte, tritt jetzt für ihn ein, da er ihn als Macht
erkennt. Namentlich der Protestantismus, der die Fühlung mit
dem Volksleben fast ganz verloren, sucht sie auf diefem Wege
zurückzugewinnen. Weihnachtspredigten erkennen den Baum offen
als Mittelpunkt der volkstümlichen Weihnachtsfeier an.
Nicht nur in ihre Predigten nimmt die protestantische Kirche
die Erwähnung des Weihnachtsbaumes auf, sondern auch ihre
Frühmetten schmückt sie damit. Durch machtvollen Lichterglanz
sucht sie die Widerstrebenden anzuziehen. Der Verfasser von
„Aus deutscher Kulturgeschichte" berichtet aus seiner Jugendzeit
von einem Dorfe, das er leider nicht nennt: Die ganze Gemeinde
hätte nur Einen, großen, mit vielen Lichtern besteckten Tannenbaum
errichtet, und zwar in der Kirche. Außerdem habe man
den in eine sechsseitige, von großen Fenstern durchbrochene Pyramide
auslaufenden Kirchturm am Christfeste fo erleuchtet, daß er
selbst wie ein großer Christbaum in das Dorf herabgesehen habe.
1864 war der Christbaum in der Weihnachtsmette in Groß-Aschersleben
und Klein - Germersleben und andern Orten der
Provinz Sachsen üblich. Dabei war die Kirche mit außerordentlichem
Lichterglanze geschmückt. Ein großer Kronleuchter mit
vielen brennenden Kerzen hing von der Decke herab. Auf dem
festlich erleuchteten Altar war das Kreuz mit angezündeten Wachslichtern
geziert und acht große Christbäume standen zur Seite
und verbreiteten um sich ein Lichtmeer. In Lauenstein im
sächsischen Erzgebirge, wie anderwärts, steht seit den fünfziger
Jahren bei der sogenannten Christmetten oder Frühmetten, die
am ersten Feiertag, morgens sechs Uhr, stattfindet und zu der
jeder Besucher ein Licht oder eine Laterne mitbringt, auf dem
Altarplatz ein lichtdurchstrahlter Tannenbaum. Auch der Katholizismus
kann sich dem Brauch nicht entziehen. In der katholischen
Stiftskirche in der Plauenschen Gasse in Dresden war Ende der
dreißiger Jahre der Weihnachtsbaum auch in die katholische
Krippenfeier eingedrungen. Um die Krippe, die an der Seite
eines Altars aufgebaut war, standen mehrere Tannenbäumchen
ohne Lichter oder sonstigen Schmuck, hinter denen die Krippe
verborgen stand.
Aus dem Volkstum saugt sich die absterbende Religion neue
Nahrung. Was Tausenden lieb geworden, das nimmt sie in ihr
Reich herüber und sucht es durch tendenziöse Sage als eigentlich
ursprünglich ihr gehörend hinzustellen. In dem ersten Drittel
unsres Jahrhunderts taucht in Lindenau bei Leipzig eine solche
Sage auf. Sie berichtet:
Im Herbst 1632 war die Schlacht bei Lützen geschlagen.
Noch lange lagen in den umliegenden Dörfern die Verwundeten
der siegreichen Schweden. In Lindenau lag ein durch die Hand
geschossener schwedischer Offizier, der in der dortigen protestantischen
Gemeinde freundliche Aufnahme und gute Pflege fand. Seine
Wunde heilte schnell, und gegen Weihnachten war er wieder so
weit hergestellt, daß er die Reise in die Heimat antreten konnte.
Vorher drängte es ihn aber, der Gemeinde seinen Dank zu beweisen,
und darum ersuchte er den Pfarrer, in der Dorfkirche
eine Weihnachtsfeier „nach der Sitte seiner Heimat" veranstalten
zu dürfen. Er erhielt die Erlaubnis, und bei der Feier wurde
auf seine Anordnung (zu der üblichen Christbescherung) ein Tannenbaum
aufgestellt, auf dessen Zweigen viele Lichter brannten.
Ein Jahrzehnt später malte C. A. Schwerdgeburth sein Bild:
„Weihnachten in Luthers Hause" und setzte einen Tannenbaum
mitten in Luthers Kreis. Mit zahlreichen Lichtern geschmückt,
steht er in voller Pracht auf dem massiven Tische, an dem Luther
und sein Weib sitzen. Fünf Kinder freuen sich an seinem Glanze,
und um seinen Fuß liegen aufgehäuft eine Armbrust und ein
Reiter zu Pferd, Bücher und Aepfel, eine Weihnachtsstolle und
Pfefferkuchen. In weite Kreise drang das Bild durch ein Buch
von Karl Reinthaler.
Aber nicht genug, daß die Sage Luther den Brauch üben
läßt, sie läßt ihn denselben auch erfinden. Einst, an einem Weihnachtsabende
- so erzählt sie seit 1859 - zog Martin Luther
allein über Land. Ueber ihm schien der Himmel rein und klar
mit tausend und abertausend Sternen. Das Bild prägte sich
ihm fest in die Seele, und als er heimkam, war sein erstes Werk,
einen Tannenbaum aus dem nächsten Holz zu holen, ihn im
Gemache aufzustellen und über und über mit Kerzen zu bestecken.
Damit wollte er seinen Kindern ein Bild von dem Nachthimmel
mit seinen ungezählten Lichtern geben, von dem der Herr Jesus
in dieser Nacht auf die Erde gekommen sei. Es ist das eine
Seminarlegende, und wahrscheinlich stammt sie aus einem der
altmodischen Religionsbücher, welche ihre Lehren noch durch
wunderbare Geschichten eindringlicher zu machen suchten. In der
Religionsstunde und im Konfirmandenunterricht ist sie häufig
erzählt und häufig geglaubt worden, obwohl ihr jede geschichtliche
Grundlage fehlt. Noch weiter hinauf ins Mittelalter als die
moderne Malerei hat die moderne Dichtung den Weihnachtsbaum
gerückt. Im zehnten Kapitel seines „Ekkehart" zeigt Scheffel
Frau Hadwig auf dem Hohen Twiel, wie sie Ekkehart und
Praxedis wie ihrem Gesinde unter einem äpfelgeschmückten Lichterbaum
bescheren läßt.
Um 1830 überschritt der Weihnachtsbaum die deutsche Sprachgrenze
nach Südosten zu. Aber auch nach andern Himmelsrichtungen
ist er vorgedrungen. Paris kannte ihn vor sechzig
Jahren noch nicht. Um 1840 führte ihn die Herzogin Helene
von Orleans in die Tuilerien ein, aber noch dauerte es geraume
Zeit, bis er hier einigen Boden fand. Späterhin hat sich auch
die Kaiserin Eugenie um seine Verbreitung verdient gemacht.
„Als vor dreißig Jahren zum erstenmal eine Bescherung der
armen Kinder der deutschen St. Josephschulen in der Billette
stattfand, liefen zwei der Veranstalter alle Blumenmärkte der
Stadt ab, durchstöberten die großen Markthallen, wo stets die
seltensten Erzeugnisse und ungewohntesten Waren zu finden sind,
suchten die bedeutendsten Blumenhandlungen auf, um schließlich
ein kaum drei Fuß hohes Tannenbäumchen zu erobern. Der
Verkäufer erzählte, daß er es auf Geratewohl mit auf den Markt
genommen, da er das Bäumchen habe ausroden müssen. Er hätte
einmal eine dunkle Mär vernommen von dem Christbaum der
Deutschen in der Weihnacht. Im Jahre 1869 fanden sich Tannenbäumchen
auf den meisten Märkten und je einige auch in den
ansehnlichen Blumenhandlungen. Um sich einen schönen, großen
Tannenbaum zu sichern, mußten die abgemeldeten Bescherer denselben
bestellen. 1890 wurden vom 10. bis 15. Dezember ab
täglich mehrere Hundert, zuletzt Tausende von Bäumchen auf die
Centralhallen gebracht, während die andern Märkte und Händler
ebenfalls noch manche erhielten. Außer den Märkten hatten etwa
dreihundert Händler und Läden in allen Teilen der Stadt Weihnachtsbäume
feilgehalten. Der Handel damit erstreckt sich bis zum
10. bis 12. Januar. Nach einer sorgfältig angestellten Schätzung
dürften zwischen 30-35 000 Weihnachtsbäume abgesetzt werden.
Davon kommen etwa ein Drittel auf deutsche, elsässische, österreichische
und Schweizer Familien, die übrigen also auf Franzosen....
Die größte öffentliche Bescherung ist immer diejenige der Elsaß-Lothringer,
bei der 3-4000 Kinder beschenkt werden, während
eine größere Zahl Erwachsener das Hippodrom füllen .... Einige
Franzosen beklagen die immer stärkere Verbreitung des Christbaumes,
sehen darin eine Annäherung an Deutschland, eine nachteilige
Annahme deutschen Wesens. . . . Von den 35 000 Christbäumen
in Paris kommt kein einziger aus dem Wald. Es sind
ohne Ausnahme in Gärten oder eigenen Pflanzungen gezogene
Bäumchen. Sie werden mit allen Wurzeln und anhaftenden:
Erdkloß, um welchen säuberlich Stroh gewunden ist, auf den
Markt gebracht. Ueberwurzelte Weihnachtsbäume gibt es nicht.
Der Erdklumpen an den Wurzeln dient trefflich dazu, den Baum,
gleich einer Pflanze, in einem starken Holzkasten einzusetzen und
durch Begießen längere Zeit grün zu halten. Unverkaufte Bäume
werden einfach wiederum in den Garten zurückversetzt, um bis
zum nächsten Jahre zu wachsen.
In den Provinzen haben besonders die wohlthätigen Vereine
für die Verbreitung des Christbaums beigetragen, indem sie Bescherungen
für die von ihnen unterstützten Armen veranstalten."
Den Weg nach der City von London fand der Weihnachtsbaum
ebenfalls durch den Königspalast. Im Jahre 1840 vermählte
sich die Königin Viktoria mit dem „prince consort" Albert
von Sachsen-Coburg. Durch ihn kam der Christbaum nach
St. James, und von da aus fand er erst langsam Eingang in
die Weihnachtsfeier der Aristokratie und der vornehmen Bürgerkreise.
In London wird der Brauch heute stark geübt. Auch
andre Großstädte Englands kennen ihn. In den Weltstädten
Schottlands und Irlands ist er nur bei den deutschen Familien
gewöhnlich, und die eingeborenen Kinder sehen staunend den
Lichterglanz zwischen den dunklen Tannenzweigen durch die Fenster
schimmern. Zum Teil ist die Form des Christbaumbrauches in
England allerdings eine andre als bei uns. Am Weihnachtsabend
wird nämlich bisweilen unmittelbar nach dem Diner, noch
ehe die Damen die Tafel verlassen, ein kleines Tannenbäumchen
von Hand zu Hand gereicht, so klein, daß jeder es bequem halten
kann. An seinen Zweigen hängt für jeden ein Geschenk, und
jeder streift sich das seine selbst herab.
Nach den Niederlanden, nach Rußland, besonders nach Petersburg
und Moskau, wo der Weihnachtsbaum jedoch nur in den höchsten
Kreisen üblich ist, und nach Italien, wo er namentlich in dem
halbdeutschen Mailand heimisch ist, ist er ebenfalls aus Deutschland
gekommen.
Auch über Europa hinaus ist der Weihnachtsbaum gedrungen.
In allen Weltteilen flammt er an: heiligen Abend. Deutsche
Auswanderer, deutsche Matrosen und zum Teil auch deutsche
Kriegsschiffe haben ihn in alle Welt getragen. In Nordamerika
gilt er schon nicht mehr ausschließlich für ein Merkzeichen des
Deutschtums und wird neuerdings sogar aus Eisen hergestellt.
Durch seinen hohlen Stamm und seine Aeste flutet das Gas,
und wo sonst Dullen die Kerzen trugen, da dreht sich heute ein
wohlgestaltetes Gashähnchen, und aus schmaler Ritze zuckt die
Flamme empor. Selbst der elektrische Draht schlingt sich schon
um den Baum, und die kleinen Glühlichtlampen mit ihren birnenförmigen
Glashüllen strahlen Licht durch die starren Zweige.
Eine durch Aufziehen gespannte Feder dreht den Eisenbaum um
seine Achse und eine dadurch mit aufgezogene Spieldose begleitet
das Umdrehen der leuchtenden Masse mit Musik. Von dem
schlichten blühenden Zweig der deutschen Winteranfangsnacht ist
wenig mehr geblieben als der Name. Aus der indogermanischen
Heimat der Deutschen mitgebracht und dann vom Christentum
in Dienst genommen, hat er, selbst ein Stück Volkstum, die
christliche Episode des deutschen Stammes überdauert und ist auf
dem Siegeszug deutscher Arbeitskraft über den Erdball in alle
Lande getragen worden. Trotz aller äußeren Versuche, ihn einer
fremden Tendenz dienstbar zu machen, hat sich das Volk den
blühenden Segenszweig den veränderten Verhältnissen entsprechend
zum Mittelpunkt des Hauptjahresfestes umgebildet und ihn auch
so vor dem Untergange bewahrt. Ist es doch keine seltene Erscheinung
der Geschichte, daß die Form den Gedanken überdauert,
der ihr das Leben gab.
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